Doch die Revoution ist gar keine. Sie ist der beste Zaubertrick seit den Tagen des großen Houdini. Und der Trick wird Glanz und Herrlichkeit seines Chefdesigners noch steigern: des Microsoft-Gründers Bill Gates. Windows 95 ist sein Kind.
Es ist entworfen, die schöne neue Welt der Informationsgesellschaft zu beherrschen. Gates' Geschöpf soll alle kränklichen Vorgänger als Basisprogramm und Betriebssystem jener rund 85 Prozent der Personalcomputer ablösen, die nach dem sogenannten Industriestandard gebaut sind. Ein ehrgeiziges Projekt. Wie funktioniert das? Wenn wird die Affäre beschreiben, als spielte sie in der Automobilindustrie, tritt der Kern der Sache vielleicht eher ans Licht:
In jahrzentelangem Ringen hat sich die Computerbranche von der Produktion überschwerer Lastwagen (der Großrechner) zu den heutigen massentauglichen Pkw (den Personalcomputern) emporgearbeitet. Der mächtigste unter den Lastwagenherstellern hieß stets IBM. Die Entwicklung zu den flinkeren Lieferwagen hatte dieser Riese noch verschlafen. Spät, als die ersten Personenwagen vom Band rollten, erwachte er und wurde aktiv. 1981 schaffte es der Konzern gerade noch, sich an die Spitze der Revolution zu setzten. In der Eile heuerte er für die einzelnen Bauteile Zulieferer an. Auch für den Motor. Und den lieferte Microsoft.
Bleiben wir im Bild: Bei dem Motor handelte es sich um eine eher primitive Zweizylindermaschine namens DOS, Disk Operation System, gerade noch Stand der Technik. Sie lief rauh, stellte immer wieder kochend den Betrieb ein und war von Laien kaum zu reparieren. Doch egal, was danach geschah: Der Motor kam immer von Microsoft.
Viele Firmen bauten die IBM--Autos nach, schließlich sogar bessere: Der Motor kam von Microsoft. Andere Unternehmen produzierten bessere Motoren, die genauso in die nach IBM--Vorlage gebauten Wagen paßten wie die Microsofts Antrieb: Weiterhin kamen die meisten Motoren von Microsoft. Wieder andere Firmen --- Apple, Commodore, Atari vorneweg --- bauten Autos, die nicht dem IBM--Modell folgten, sondern schöner und flotter waren, angetrieben von Vier-- und Sechszylindern, über deren Eleganz man heute noch staunen kann: egal. Microsoft verkaufte immer mehr und noch mehr von seinen Motoren.
1990 pries das Gates--Unternehmen die Möglichkeit an, daß man zu dem DOS--Motor auch ein Gaspedal kaufen konnte. Faszinierend. IBM war immer der Ansicht gewesen, die Leute kämen mit dem Leerlauf allein auch gut voran. Das Gaspedal hieß Windows 3.0. Es wurde ein enormer Erfolg. Der Wagen soff zwar fortan Sprit zum Steinerweichen -- das Doppelte, Vierfache, Zehnfacht. Aber die Leute hatten plötzlich das Gefühl, daß sie erstmals richtig Auto fuhren. Und obwohl die Konkurenten mit den vier und sechs Zylindern das immer schon geboten hatten: Just mit diesem zweizylindrigen Säufer setzte der PC sich durch. Fast alle Konkurenten gingen in der Marktschlacht unter.
Natürlich darf Microsoft die Hände nicht in den Schoß legen. Statt jedoch einen starken, genügsamen Achtzylinder zu entwerfen --- wozu ihr weder Mittel noch Können fehlen ---, stopft die Firma jetzt in das alte Modell noch zwei Zylinder hinein, schweißt das hübsch verchromte Gaspedal untrennbar daran und veredelt das Meisterwerk mit komplexen Roboterarmen, die bei der täglichen Wartung helfen. Das ist eine gewaltige technische Leistung. Man muß sie bewundern, noch mehr den Irrwitz, diese komplizierte Konstruktion einer Neuentwicklung vorzuziehen.
Das also ist Windows 95, der Jahrhundertmotor, benannt nach dem Gaspedal. Der Laie wundert sich. Von dieser Maschine und von nichts anderem mehr schnattert die Computerszene?
So muß das wohl sein. Das Auto ist, wie jeder weiß, in einer von Männern dominierten Welt zum Phänomen der Populärkultur geworden, völlig unabhängig von seiner Bedeutung in der Praxis. Ebenso ergeht es jetzt dem Computer. Kult, Mythos und Status bestimmen sein Dasein. Der PC entflieht der tristen Geschäftswelt und wird Bestandteil des Pop. Die Vordenker in der Sene haben das längst erkannt. Wie das Weihnachtsgeschäft 1994 zeigte, schleppen Menschen erstmals leistungsfähigere PCs nach Hause, als ihnen der Arbeitgeber ins Büro stellt. Die neuen Computerspiele brauchen die stärksten Maschinen.
Für diese historische und kulturelle Wende steht Windows 95. Was es auf den Bildschirm bringt, wurde in endlosen Nützlichkeitstests geformt, schließlich muß diese Software auch noch im Büro überzeugen. Zugleich ist sie ein Comic--Programm, Gelsenkirchener Barock mit künstlichen Palmen. Wer mag, darf alle ihre Schirmbildchen ins pastelligste Rosa tauchen.
Dazu bietet Windows 95 einen Online--Anschluß, die Mitgliedschaft im sogenannten Microsoft Network. Er steht für die Informationsgesellschaft, wirkt aber ebenfalls mehr wie eine Karikatur der echten Idee: Die bestand in der Vision von der anarchisch--demokratischen Informationsverarbeitung, die den Urvätern des Mikrocomputers vorschwebte -- auch Bill Gates, als er jung war. Gates, der bald Vierzigjährige, möchte daraus ein möglichst monopolistisches Online--Gebilde formen, samt Microsoft--eigenem Informationsministerium.
Mancher wundert sich nun erst recht. Pop--Phänomen schön und gut, auch der Propagandaetat von 500 Millionen Dollar für Windows 95 ist nicht ohne. Aber muß man deshalb einem Bluff aufsitzen, auch wenn es der Bluff des Jahrhunderts ist?
Nun, so einfach ist es auch wieder nicht. Hier spätestens endet die Vergleichbarkeit der Computerindustrie mit der Autobranche. Sie kann nicht sorglos ein altes Modell für obsolet erklären. Denn das könnte bedeuten --- für die Autowelt eine absurde Vorstellung ---, auch das Straßennetz neu bauen zu müssen, auf dem es fährt: Vorhandene Daten, Programme, Computer, alles steht in Frage, wenn man sich von einem eingeführten System trennt.
Deswegen kommt der Motor weiter von Microsoft. Der PC als Standardgerät, um das sich viele Hersteller zugleich bemühen, garantiert stets breites Angebot, niedrige Preise und vor allem jene Kontinuität, die für Geschäftsinvestitionen oft wichtiger ist als Leistung. Als dieses Gerät dank Massenauflage Schrittmacher für die ganze Branche wurde, übernahm Microsoft als bedeutendster Teilebauer die Macht. Und weil die Firma immer mehr Produkte erfindet, die von dieser Dominanz profitieren könnten --- nun sogar noch den Online--Dienst ---, faßt das amerikanische Justizministerium ihre Geschäfte scharf ins Auge. Soll man, so wird diskutiert, die Marktmacht des genialen Zauberers zerschlagen?
Ein Pop--Phänomen kann man nicht zerschlagen. Also feiern wir Computerbegeisterten weiter unseren Popstar Bill Gates. Da hat sich einer von uns, die wir mit unkämmbaren Haaren, rutschender Brille und labiler Balance der Seele kämpfen, emporgearbeitet. Nun ist er der reichste Mann der Welt, der die Arbeits-- und Lebenswelt von vielen Millionen Menschen bestimmt. Er ist der Größte, ein Mythos, der nicht zu brechen ist: das reale Ergebnis der vollendeten Illusion.
Quelle: Die Zeit, Nr. 33/95